Begegnung in Saigon

Als ich einmal in Saigon meinen Urlaub verbrachte, beschloss ich die Hafengegend zu erkunden. Besonders interessierte mich der Anleger, an welchem die Schnellboote nach Vung Tau abfahren. Ich machte mich auf den Weg dorthin, wie immer zu Fuß, um möglichst viel von Saigon sehen und erleben zu können. Am Anleger angekommen, studierte ich die Fahrpläne und sah mir die Boote an. Diese machten im Vergleich zu Fährbooten wie ich sie in Europa sah, nicht unbedingt einen zuverlässigen Eindruck. Es waren alte, arg heruntergekommene Tragflügelboote aus der ehemaligen Sowjetunion. Ich hatte bis zur Abfahrt des nächsten Bootes noch viel Zeit und setzte mich auf eine der Bänke auf dem Anleger und tat das, was ich am liebsten in Saigon tue: die Menschen und das Geschehen um mich herum zu beobachten.  Ich saß nicht lange auf der Bank, als sich eine Dame näherte, die mir durch Ihre für eine Vietnamesin ungewöhnliche Größe auffiel. Sie mochte um die vierzig Jahre, vielleicht auch älter gewesen sein. Das genaue Alter war schwer zu schätzen. Ich glaube sie war bestimmt nicht älter als fünfzig Jahre. Das harte Leben und viele Entbehrungen haben sie wahrscheinlich älter aussehen lassen. Ihre Kleidung machte einen recht ordentlichen Eindruck, sie war dezent aber sorgfältig geschminkt  und trug eine Zipfelmütze, wie man sie im Winter in Deutschland trägt. Darüber wunderte ich mich etwas, es machte die Dame aber noch interessanter. Sie strahlte etwas aus, was ich bei vielen Händlerinnen und Händlern, wie man sie allenthalben in Saigon antrifft, bislang nich bemerkt hatte: es war die Würde welche sie ausstrahlte. Sie sprach mich an und fragte, ob ich einen Reiseührer, Postkarten, oder einen Stadtplan benötigen würde. All das hatte ich bereits in ausreichender Menge, dennoch kaufte ich  ihr einen Vietnam-Reiseführer von Lose ab. Die Kopie des Reiseführers war einfach besser, als die welche ich schon hatte. Sie fragte mich, aus welchem Land ich käme und sehr schnell hatte sich ein Gespräch entwickelt. Sie sprach außerordentlich gut Englisch. Sie erzählte aus ihrem Leben. Sie hatte für die Amerikaner gearbeitet, als Dolmetscherin und Lehrerin, hatte gut verdient und ein comfortables Leben gehabt. Das war bald nach dem Krieg vorbei. Was sie über diese Zeit ihres Lebens berichtete, soll an dieser Stelle nicht wiedergeben werden. Natürlich konnte man ihre Lebensgeschichte glauben oder nicht, eine Verifizierung war ja nicht möglich. Da ich ähnliche Schilderungen wie die von der Dame schon öfter gehört und gelesen hatte, mochte ich  ihre  Glaubwürdigkeit nicht gänzlich anzweifeln. Irgendwann fragte sie, ob ich schon einmal einen vietnamesischen Markt besucht hätte, sie kenne eine interessante Markthalle, nicht weit weg vom Anleger. Natürlich hatte ich bereits während der ersten Vietnamreise die beiden bekanntesten Märkte Saigons besucht, dass gehört ja zum Pflichtprogramm. Ich ging dennoch auf das Angebot der Dame ein, eine kleine Sightseeing-Tour zum Markt nahe dem Anleger unter ihrer Führung zu unternehmen, weil es sehr interessant zu werden versprach. Während des Gesprächs mit der Dame, hatte diese mich mit Getränken vom Verkaufsstand auf dem Anleger versorgt, dass war erstklassiger Service, da ich nur die Preise für Vietnamesen zu zahlen hatte, aber dass erst später.  Schnell orderte die Dame zwei Mopeds und los ging die Fahrt durch Saigon. Die Markthalle lag doch nicht so ganz nah am Anleger. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Markthalle erreicht war, was mir aber nicht unrecht war, gehören doch Mopedfahrten durch die Stadt zu den absoluten Höhepunkten eines jeden Aufenhaltes. In der Markthalle angekommen, führte mich mein Scout zuerst einmal zu einem Markthallen typischen Restaurant und es gab eine wirklich gute Nudelsuppe, Saigon-Bier und Ratten zu den Füßen inclusive. Die Welt war also in bester Ordnung. Nach dem Essen, folgte ein Rundgang durch die Markthalle und Kauf einiger Hemden, mit Anprobe vor begeistertem Publikum, bereits bekannt vom Hosenkauf mit Anprobe in der Markthalle von Phan Thiet. Nach dem die Einkäufe erledigt waren, orderte meine Begleiterin vor dem Markt eine Fahrrad-Rikscha. Es ging im gemütlichem Tempo zurück zum Anleger. Dort angekommen entwickelte sich plötzlich ein heftiger und lautstarker Streit zwischen Scout und Rikscha-Fahrer, dieser hatte gegen den Scout keine Chance. Der Streit endete, indem einige Geldscheine auf den Rikschasitz geworfen wurden. Es ging wie ich erfuhr darum, dass ein höherer Fahrpreis verlangt worden war, als vor Beginn der Fahrt vereinbart. Das kam mir irgendwie bekannt vor. Auf dem Anleger angekommen, erstattete ich meiner Begleiterin alle Kosten und noch etwas mehr und verabschiedete mich. Die Fahrt mit dem Schnellboot nach Vung Tau war an diesemTag kein Thema mehr, aber die Tour war eindeutig die bessere Alternative gewesen.

Warum diese eigentlich recht simple Geschichte? Nun, ich bin während des nächsten Aufenthaltes in Saigon der Dame wieder begegnet, wieder auf dem Anleger. Sie verkaufte das bekannte Sortiment an Reiseführern und anderen Dingen. Ich habe sie sofort wiedererkannt, sie mich nicht. Sie bot wieder Postkarten, Reiseführer und Stadtpläne an. Ich habe einen Stadtplan gekauft. Mir schien es, als wäre die Frau sehr gealtert innerhalb eines Jahres. Ihr Haltung war noch immer aufrecht, aber sie schien müde zu sein, ich meine auch Resignation bemerkt zu haben. Keine Spur  von dezent aufgetragener Kosmetik. Die Kleidung war die gleiche wie bei der ersten Begegnung, jedoch arg verschmutzt, sie trug nur noch Plastiksandalen. Der Niedergang war unübersehbar. Ich war sehr betroffen und habe oft über die zweite Begegnung nachgedacht. Was mochte, während ich bereits mit dem Plan, im darauffolgenden Jahr erneut Viet Nam zu besuchen, nach Deutschland zurückgehrt bin, in ihrem Leben abgelaufen sein? Ich war sehr unzufrieden und beschämt zugleich, weil es mir so gut geht. Ich werde auch künftig solchen Begegnungen nicht aus dem Wege gehen. Sie erinnern mich stets daran, Bescheidenheit zu üben und Menschen die nicht so gut gestellt sind wie ich, zu helfen.

Walter Meyer